Vorab: ich finde den Musikerberuf grandios, möchte nicht tauschen und bin dankbar, dass ich vom Musizieren leben darf. Das macht mich glücklich.
Ich will's noch mal theoretisch versuchen, zu erklären. Immerhin hatten über die Hälfte all der hier so verehrten Jazzmusiker erhebliche Drogenprobleme, die nicht selten zum verfrühten Tod führten. Das ist kein Zufall und sollte zumindest bei der Frage, ob Musiker die glücklicheren Menschen sind, eine Rolle spielen.
Der Applaus ist eine Bestätigung, ganz klar, ein Schulterklopfen: hast du gut gemacht. Bekommt der Schichtarbeiter nicht, das ist richtig. Der geht nach Hause und trinkt ein Bier. Der Applaus ist aber nicht nur Anerkennung für den Künstler; er ist auch der Qualitätsmesser der Arbeit. Solange es Applaus gibt, scheint die Arbeit wohl gelungen. Nur wehe, wenn der Applaus weniger wird oder gar ausbleibt!
Solange die Säle und die Touren größer werden, ist das kein Problem; werden sie kleiner, wird es schwer. Das Problem hat ein Angestellter mit seiner Karriereleiter auch mitunter, ich weiß, will aber auf etwas anderes heraus.
Ich nehme mal einen Sänger, der auf die Bühne steht. Bis es dazu gekommen ist, ist meist ein weiter Weg und kurz, bevor er die Bühne betritt, hat er Lampenfieber. Das äußert sich vielleicht in Durchfall, einem trockenen Mund oder kräftigem Gähnen. Die Anspannung, die diese Krankheit auslöst, ist oft sehr groß, bei Premieren mitunter unerträglich.
Lampenfieber rechnen die schlauen Wissenschaftler zur Sozialphobie und es ist platterdings nichts anderes als die Angst vor einer Blamage, nicht vor einer Gruppe von Menschen zu bestehen.
Sobald der Sänger die Bühne betreten hat, ist das Lampenfieber in der Regel verschwunden.
Sagen wir, der Sänger singt über die Liebe; er hat seinen Liebeskummer in Reime gefasst und präsentiert diese dem Publikum. Er hätte es auch einer Freundin erzählen können, abends in beschaulicher Atmosphäre bei einem Glas Wein. Er steht aber auf der Bühne und singt seine Seelenzustände in die Ohren hunderter Menschen. Seine Stimme hat er zu diesem Zweck verstärkt.
Eine pervertierte Situation, wie mir scheint: es liegt nun mal nicht in der Natur des Menschen, seine intimen Gedanken durch die Gegend zu schreien. Genau das aber passiert hier. Dafür zahlen die Leute ihren Eintritt. Sie erkaufen sich das Recht, dem Künstler nahe zu kommen und sie erkaufen sich das Recht, ihn, ok, seine Kunst zu beurteilen. Im Grunde beurteilen sie aber doch ihn, weil weder Publikum noch Künstler ihn und seine Kunst von einander trennen könnte.
Wir haben also folgende Situation: der Künstler singt sich die Seele aus dem Laib und das Publikum kauft den Akt. Es ist nichts anderes als der berühmte Verkauf der Seele, Urthema nicht erst seit Doktor Faustus.
Das ist kein Vorgang, der ursächlich mit Musik verknüpft ist. Ein Volksmusikchor hat mit dieser Problematik nichts am Tirolerhut. Es ist ein Konflikt, der mit dem Beruf des Musikers auftaucht, genauer, mit der Vervielfältigung und Verwertung des Künstlers. Eine Vervielfältigung bedeutet immer eine Entwertung - das Rare, Einzigartige ist von Wert - das Individuum selbst eignet sich nicht zur Massenware, zumindest nicht aus eigener Sicht. Und so verwundert es nicht, dass gerade Künstler von Weltruf mitunter größte Schwierigkeiten mit ihrer Persönlichkeit bekommen.
Spontan fällt mir Norah Jones ein, von der ich jedes Lied mag, was sie vor der Grammy-Verleihung aufgenommen hat. Die Lieder danach leiden an Seelenlosigkeit, frag mich warum. Kein einziges kann mit der Qualität der alten Lieder mithalten.
Unser Sänger ist nun fertig mit seinem Konzert, hat den tosenden Schlussapplaus mitgenommen und sitzt in seiner Garderobe. Das Lampenfieber ist dem Gefühl des Sieges gewichen, er hat bestanden, mehr noch, wird gefeiert und die Presse wird sich überschlagen. Die Jungs von der Band wollen den Auftritt begießen und nun hat der Sänger zwei Möglichkeiten: entweder er feiert mit oder geht auf sein Hotelzimmer.
Ersteres bedeutet, man macht einen drauf und kommt nicht vor 4 Uhr und schon gar nicht bei vollem Bewusstsein ins Bett. Das kann man machen, allerdings nicht über längere Zeit. Macht man es über längere Zeit, werden die Drogen härter und die körperliche Konstitution schlechter werden.
Die andere Möglichkeit besteht, doch stelle man sich das Szenario vor: der eben noch hochumjubelte Künstler geht aus dem Hinterausgang des Theaters, läuft durch die Straßen zum Hotel und trällert noch einmal seinen letzten Song. Nee, tut er nicht: er ist einer unter Vielen in einer völlig fremden Stadt, Downtown, Mitternacht, die Pärchen und angeheiterten Grüppchen, die ihm entgegen kommen haben ihren Spass. Er ist nicht nur einer unter vielen, sondern wahrscheinlich der Einsamste von allen.
Er hat keinen Freund in der Stadt, kennt niemanden, kann keinem sagen: 'Mensch, hast du gesehen, wie die gejubelt haben'. Er ist alleine! Und noch mehr, er hat sein Inneres nicht mehr. Hat er verkauft. Das haben seine Zuhörer mitgenommen.
Und wenn die nun schlecht damit umgehen, wenn die Presse sagt, er singe nicht mehr so wie früher, wenn er sich auf der Bühne tatsächlich blamiert, auf dem absteigenden Ast sitzt, ausgeblutet ist, dann kann man nur hoffen, dass da noch Menschen und Dinge sind, die ihn erfüllen können, ihn auffüllen, ihm ein Inneres zurück geben.