Kurzer Abriss zur Geschichte und Funktion des Blues
„Blues, die einzig originale Form des Jazz[...]“
[1] „Blues, die wahrscheinlich älteste eigenständige Form in der Musik der Afroamerikaner, die zur Urform des Jazz, später auch zu dessen wichtigster Form wurde. Der Blues ist aus Volksgesängen der nordamerikanischen Neger entstanden, die auf afrikanische und europäische Wurzeln zurückgehen.“
[2] „Blues (aus englisch blue devils): Trübsinn“
[3] „Jeder hat den Blues, irgendwann mal, Knall auf Fall. Nehmt mal das kleine Baby in seiner Wiege, das seine Flasche nicht schnell genug bekommt. Das fängt an zu strampeln und zu schreien und sich sonst wie aufzuführen und das kleine Kinderbettchen zu demolieren. Es hat den Blues [...] Ich hab jetzt seit zehn Wochen meine Frau nicht mehr gesehen – ich hab den Blues! Kapiert ihr’s?“ [4]
Um die Geschichte des Blues verstehen zu können muss geklärt werden, was Blues bedeutet und welche Form er hat.Blues ist ein Gefühl von Angst, von Einsamkeit oder Ausdruck einer Mangelerscheinung (s.o.). Bluessänger beschwören dieses Gefühl ritualisiert vor und während ihrer Konzerte herauf .
[5] Der Blues verbindet: „if you really dig the blues say yeah!“
[6] Damit werden dem Publikum zwei Arten der Identifizierung geboten:
1. Jeder hat den Blues.
2. Jeden Tag hab ich den Blues.
Ersteres überbrückt Distanzen. Im zweiten Fall wird eine ähnliche Erfahrung vorausgesetzt, und jeder kann sich mit ihr identifizieren.
[7]Der Blues wird heute als zwölftaktige fixe Form mit dem bekannten funktionsharmonischen Aufbau beschrieben, wie er schon von T-Bone Walker gespielt wurde.[8]
Diese Definition schließt allerdings zwei Arten aus:
2. Blues mit zweiteiliger Strophenform (Baby, please don’t go, Sittin on the top of the world).
Diese beiden Arten des Blues sind allerdings so verbreitet, dass die uns bekannte klassische Bluesform eher als eine Randerscheinung betrachtet werde muss.
[9] Dass der Blues von jeher ein zwölftaktiges Stück sei, ist demzufolge ein Missverständnis.Ein zweites Missverständnis resultiert aus den europäischen Hörgewohnheiten. Die von Bluesleuten schwebend intonierte 3. und 7. Stufe (blue-notes) der ionischen Skala hören wir zurecht und nehmen sie als zur Molltonalität gehörig wahr. Der Mollklang hat für uns einen schwermütigen Charakter. Für Afroamerikaner sind blue-notes ein emphatischer Ausdruck, ein ekstatisches Gefühl.
[10] Dieses Missverständnis wird von der oben genannten Übersetzung unterstützt, da „to be blue“ in der englischen Umgangssprache seit dem 16. Jahrhundert die Bedeutung von „betrübt, melancholisch, schwermütig sein“. Im Sprachgebrauch der Afroamerikaner bedeutet „to be blue“ aber so viel wie: Mut, sich dem Leben zu stellen (Johnny Shines). Damit zeigt sich deutlich die Funktion dieser Musik, eben: sich dem Leben zu stellen. Woke up this morning...Diese Zeile ist kein Klischee, sondern eine ernst gemeinte Aufforderung: „Los, steh auch auf und blicke den Tatsachen ins Gesicht!“ Diese Tatsachen waren (und sind) für einen Schwarzen in Amerika Unterbezahlung, Ghettos, Diskriminierung.
[11] Der Blues ist Widerstand und Trotz: „Die Musik mag langsam sein, in der Art einer Klage. Doch hat sie einen Rhythmus, mit vorwärtstreibenden Bässen im Rücken, der zu sagen scheint: Meinem Schicksal zum Trotz, dem Unglück zum Trotz, ja, trotz dieses Blues selbst: Ich gebe nicht auf, ich werde mein Ziel erreichen.“ (Langston Hughes)
[12]Hughes schreibt in einem seiner Bluestexte (Backlash Blues)
[13]: „Mister ReaktionärWas glaubst du bloß, wer ich bin?Du erhöhst meine Steuern, frierst meinen Lohn einSchickst meine Söhne nach Vietnam hinDu gibst mir zweitklassige HäuserUnd Schulen zweiter WahlGlaubst du, alle Farbigen sind IdiotenUnd uns ist das egal?[...]Aber die Welt ist großGroß und weit und rundUnd sie ist voller Leuten wie mirSchwarz, gelb, beige, braun oder sonst wie buntMister ReaktionärAm Schluss hast du den Blues, den ich jetzt hab’Wart’s nur ab!
“Man darf angesichts dieses Textes nicht vergessen, dass Blues keine Agitationsmusik ist. Er spricht von Bedürfnissen und der Weigerung, alles als gegeben hinzunehmen.
[14]Einen weiteren Aspekt zeigt der Soziologe Charles Keil in seinem Buch „Urban Blues“ auf: „Ein guter Bluestext ist eine repräsentative Anekdote; er führt ein Problem in konzentrierter Form vor, benennt eine Malaise. Der gelungene Vortrag eine Blues ist gleichzeitig ein Gegengift gegen die genannte Krankheit.“
[15] Dabei ist der Singende gleichzeitig das lyrische Ich („I’ve got the blues so bad, it puts my face in a permanent frown.“)
[16] Allerdings sind die Aussagen des lyrischen Ichs nicht zwangsläufig autobiographischer Natur.Neben „den Tatsachen ins Auge blicken“ (s.o.) sind Aufbruch und Handlungsfähigkeit ein wichtiges Thema („Komm mit, etwas Besseres als den Tod findest du überall!“ – Bremer Stadtmusikanten). Weitere Charakteristika dieser Musik sind Witz, Ironie und Sarkasmus, wie beispielsweise die Aussage: „Ich stecke so tief im Dreck, das mir unten schon wie oben vorkommt!“
[17]B. B. King treibt die Konfliktbewältigung des Blues noch weiter und zeigt die Kluft zwischen den Geschlechtern auf, die aus der Lebenssituation in den Ghettos resultiert.
[18] Dabei steht seine eigene Stimme für das unverkennbar Männliche (gospelartig, Falsetttöne, die bei den Afrikaner als Zeichen für Männlichkeit gelten). Seine Gitarre bildet den Gegenpol: Das Weibliche und das Erotische (verklanglicht durch Glissandi, Tonbeugungen, Dehnungen und Rück-kopplungen). Der Name „Lucille“, den King seiner Gitarre gegeben hat, ist also keinesfalls nur ein Werbegag. So sind auch seine Ausrufe: „Yeah Lucille, tell it like it is!“ ernstzunehmen. Andere Musiker treiben solche Schilderungen sogar bis zur Darstellung eines ganzen Ehekrachs (Luther Allison). Dabei sind Texte, die eindeutig erotisch klingen, häufig doppeldeutig und erzählen zwischen den Zeilen von Unterdrückung.
[19]Die Entstehung des Blues kann auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: Einmal die Tradition der Ritual- und Zeremonialmusik der Afrikaner, die nach und nach verschwand, weil sie ihren gesellschaftlichen Ort verlor.
[20] Zum anderen auf die Volksmusik der eingewanderten Europäer. Aus den Berührungspunkten entstanden Mischformen beider „Musiken“, wie beispielsweise der Blues. Dieser hatte, je nach Struktur der Bevölkerung, verschiedene Ausprägungen (namentlich die stilistische Differenz zwischen Blues aus dem Yazoo-Delta und North- bzw. South Carolina).Erste Belege für solche Mischformen finden sich 1774 in einer Schilderung über Banjos (Autor unbekannt, HB4): „Dazu spielen sie eine überaus kuriose Musik, die auf höchst satirische Weise von Master and Mistress handelt.“ 1816 schreibt K. Paulding: „Die Neger haben eine Vielzahl von Liedern, die sie selbst komponiert haben, und die auf verschiedene kleine häusliche Vorfälle beruhen.“ (HB 5)Die Beschreibung trifft auf einen Großteil der Bluestexte zu (s.o.).Was wir als Blues kennen ist wahrscheinlicherst nach Ende des Bürgerkrieges entstanden, welches eine Änderung der Bevölkerungsstrukturen und der Herrschaftsverhältnisse mit sich brachte. Nach und nach kommt der Blues auf die Bühne, weil immer mehr Menschen ihn hören wollen (erste wichtige bekannte Interpretin: Gertrude ‚Ma’ Rainey). Das führte dazu, dass die Kompositionen so angelegt werden, dass sie dem Publikum gefallen. Dadurch etabliert sich eine feste Form, die wir heute als „die klassische Bluesform“ kennen. Gleichzeitig geht die formale Vielfalt des Blues verloren. Der erste Blues in gedruckter Form erscheint 1912 (William Christopher Handy: Memphis Blues, HB 6; St. Louis Blues, 1914).
Seit dem Zeitpunkt der ersten kommerziellen Vermarktung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung dahin gegangen, dass einzig der zwölftaktige Blues übrig geblieben ist. Wie erwähnt, wurde dieser vor allem in den Vaudevilles
[21] berühmt. Manfred Miller schlägt deshalb die Bezeichnung „Vaudeville-Blues“ für die uns bekannte Form vor.
Kurze Beschreibung von Form, Melodik und Harmonik des Blues sowie der Entwicklungen der Bluesform im Jazz
In seinen Ursprüngen ist de Blues eine Musik, in der die Form nicht über das Taktmaß bestimmt wird, sondern über online casino die Melodie. Dieser liegt eine AAB-Form zugrunde (Bar-Form), d.h. die erste Zeile wird wiederholt und die dritte ist anders. Dies bezieht sich sowohl auf den Text als auch auf die Melodie. Letztere besteht aus gut singbaren Phrasen mit einem beschränkten Ambitus und tendiert zum Sprechgesang.Als besonderes melodische Merkmal seien an dieser Stelle nochmals die ‚blue notes’ erwähnt. Durch sie entsteht der bluestypische Charakter.Ursprünglich wurde der harmonische Unterbau einer Phrase so lange genutzt, wie die Phrase war. Erst dann erfolgte der Harmoniewechsel. Dabei wurden die erste, vierte und fünfte Stufe der jeweiligen Tonart als Dominantseptakkorde genutzt.Der heute gängige zwölftaktige Blues entsteht etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Blues salonfähig wird. Von nun an hat er mit dem 4/4-Takt ein verbindliches Metrum und zudem eine verbindliche harmonische Struktur. Der basale Blues sieht wie folgt aus (funktionstheoretisch dargestellt):
[22] | T7 | T7 | T7 | T7 || S7 | S7 | T7 | T7 || D7 | D7 | T7 | T7 :||
Natürlich hat sich der Blues weiterentwickelt, die aber vorwiegend im Bereich der Jazzmusik. Hier werden die harmonischen Strukturen verändert und variiert, wobei das Grundgerüst (z.B. im Takt fünf immer Subdominante) allerdings in den meisten Fällen erhalten bleibt, ebenso wie die zwölftaktige Form. Es gibt nur wenige Abweichungen, wie beispielsweise Herbie Hancocks „Watermelon Man“ oder Jean Thielmanns „Bluesette“.Die Melodien werden beim Jazzblues instrumental gespielt und sind deshalb in vielen Fällen auch in der Komposition so angelegt, weswegen von vornherein auf Texte verzichtet wird (Straight, no chaser, HB 7).Weitere Bluesschemata in harmonischer Darstellung:
Blue Monk (Th. Monk):| Es7 | As7 | Es7 |Es7 || As7 | As7 | Es7 | Es7 || Bb7 | As7 | Es7 | Es7 ||
Bebop-Blues mit erweiterten Kadenzen, Tritonussubstituten und Turnaround:
| F7 | F-7 Bb7 | E-7 A7 | Es-7 As7 || D-7 | G7 | C7 A7 | D-7 G7 ||
Blues For Alice (Ch. Parker): | Fmaj | EØ A7/ b9/ b13 | D-7 G7 |C-7 F7 || Bb7 | Bb-7 Es7 | A-7 D7 | As-7 Des7 || G-7 C7 | C#-7 F#7 | Fmaj | G-7 C7 ||
Blues mit Brücke (Bridge, AABA-Form), Locomotion (J. Coltrane):| Bb7 | Bb7 | Bb7 | Bb7 || Es7 | Es7 | Bb7 | Bb7 || C-7 | F7 | Bb7 | Bb7 :||| As7 | As7 | G7 | G7 || Ges7 | Ges7 | F7 | F7 || Bb7 | Bb7 | Bb7 | Bb7 || Es7 | Es7 | Bb7 | Bb7 || C-7 | F7 | Bb7 | Bb7 ||
Dahlhaus, Carl u. Eggebrecht, Heinrich (Hg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon. Mainz 1955
Gudemann, Wolf-Eckhard (Hg.): Bertelsmann Universallexikon. Gütersloh 1990
Miller, Manfred: Blues. In Lortz, Helmut (Hg.): That’s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1997
Boländer, Carlo und Holler, Heinz und Pfarr, Christian: Reclams Jazzführer. Stuttgart 2000 Verzeichnis der
HB 2: Backlash Blues. Nina Simone auf Released. Camden (BMG) 1996
HB 3: Cakewalk Into Town. Inga Rumpf aufIn The 25th Hour. Nullviernull 1996
HB 4: Ain’t It A Shame. Jack Elliot und Derrol Adams auf Selection Of America. Cedar 1997
HB 5: Baby, You Gotta Change Your Mind. Blind Boy Fuller auf Blues Legends. Master Music 1997
HB 6: St. Louis Blues. Billie Holiday auf Greatest Hits. Columbia 1995
HB 7: Straight, No Chaser. Thelonious Monk auf Straight, No Chaser. Blue Note 1951
HB 8: 15 Cent A Day Blues. Roosevelt Sykes auf Blues Legends. S.o.
HB 9: Too Much Trouble Blues. T-Bone Walker auf Blues In History. Lable und Jahr unbekannt.
[1] Reclams Jazzführer, S. 361
[2] Brockhaus Riemann Musiklexikon, S. 151
[3] ebd.
[4] Albert King, That’s Jazz, S. 63
[5] B. B. King: Live At The Regal. 1964
[6] ebd.
[7] Miller, That’s Jazz, S. 63
[8] Hörbeispiel 9
[9] Miller, S. 63
[10] ebd. S. 65
[11] vgl. Hörbeispiel 8
[12] Miller, S. 66
[13] Hörbeispiel 2
[14] Miller, ebd.
[15] ebd.
[16] Hörbeispiel 3
[17] Miller, S. 67
[18] Hierbei sollt man an die Szene des Films „Blues Brothers“ denken, als die Gebrüder Blues ihren langjährigen Gitarristen Matt ‚Guitar’ Murphy quasi aus den Händen seiner Frau (Aretha Franklin) „reißen“, woraufhin sie das Lied „R.E.S.P.E.C.T“ singt.
[19] Der Blues „Eyesight to the blind“ spricht von einer schönen Frau, wurde aber von den schwarzen Landarbeitern des Mississippideltas ganz anders verstanden (vgl. Miller, S. 67). Das erste Mal war die Idee „Black Is Beautiful“ geboren.
[20] Miller, S. 67
[21] Unterhaltungsshow mit Elementen des englischen Varietys; entwickelte sich nach und nach zu einer eigenständigen Form mit Anleihen aus Operette, Minstrel und Zirkus
[22] Burbat, S. 36
Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, 24. Dezember 2015 20:56