Hallo pue,
das ist eine spannende Diskussion!
Allerdings bin ich doch verwundert, pue: dieselbe intelligente Volkszelle, der du gestern noch die Errettung der Welt zugetraut hast -- nämlich dadurch, dass sie in ihrem Denken die politische Spitze des Dreiecks auf den Kopf stellt -- diese Volksseele geht jetzt umher und pickt sich wehrlose kleine Künstler heraus, stürzt sich auf sie und frisst sie mit Haut und Haaren?
Da stimmt etwas in deiner Ideologie nicht. Sie klingt in meinen Augen tradiert, klischeebehaftet. Ich sehe den einsamen Künstler nach seinem famourösen Bühnenauftritt in der düsteren Hotelzimmerzelle seine Sorgen mittels Alkohol, Zigaretten und Weltschmerzgedanken wegfegen. Du solltest auf deine Kritiker hören, die sagen, da hat jemand sein Leben nicht im Griff!
Der von dir zitierte Auszug aus Pres' Biografie stammt aus Joachim-Ernst Berendts "Jazzbuch". Was ich sagen will, der normative Gedanke der einsamen Künstlerseele, wie sie in den siebziger Jahren Gültigkeit hatte, mag sich im Laufe der Jahre gewandelt haben. An der Stelle möchte ich einmal fragen, ob es so etwas wie die Poetik (Abhandlungen über die Aufgaben und Funktionen der Dichtkunst) auch in der Musik gibt (etwa: Abhandlungen über die Aufgaben und Funktionen der Kunst des Musizierens), nämlich eine Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem künstlerischem Werk und seinem Leben über die verschiedenen Zeitepochen hinaus.
Hier wäre besonders interessant, wie im Laufe der Jahre sich das Bild des Musikers -- sagen wir vom gottesfürchtigen Minnesänger bis in die heutige Zeit verändert hat. An irgendeiner Stelle wird der Geniebegriff auftauchen, in der Literatur taucht er in der Sturm-. und Drangzeit auf, wo der Künstler den Anspruch hegte, sich aus der sterblichen Masse der einfachen Anderen abzusondern und mit seinesgleichen zusammenzutun und mit seinesgleichen zu produzieren.
Fliegt man nun vom Sturm und Drang hundert Jahre weiter, landet man in einem kriegserschütterten Europa und zu der Zeit hat es viele Versuche gegeben, sich künstlerisch neu auszudrücken und zu erklären. Lester Young hat das aufblühende Nachkriegseuropa, ein kulturell verunsichertes Nachkriegseuropa, erlebt, das sich (eingeschüchtert?) an der Neuen Welt orientierte. Das heißt, während Europa gestern noch im Schützengraben lag, feiert es am Tag darauf seine Jazz-Heroen, als wäre nichts geschehen. Überhaupt hat niemand darüber geschrieben, inwieweit die Menschen oder ganze Generationen durch die Kriege bis zum Vietnamkrieg bis heute (als Enkel der Traumatisierten!) paralysiert waren. Nur die sensibleren unter ihnen hatten den Fluchtpunkt "hier stimmt was nicht", und sie richteten ihren Protest über Jahrzehnte etnweder nach außen (etwa, indem sie ihre Popularität nutzten) oder nach innen (Drogenexzesse).
Richtet der Künstler seinen Weltschmerz nach innen, wird sofort seine Disposition augenfällig. Sie reicht (seit dem Sturm und Drang) vom einfachen Anderssein bis zur Geisteskrankheit. Irgendwo dazwischen liegt der suchtkranke Musiker, der auf der einen Seite seine bewusste Abspaltung als Ressource nutzt -- um seine Kunst aus der Masse herauszulenken, unter anderem aber auch unter dieser Abspaltung bis zur Drogenexzessbehaftung zu leiden scheint.
Sicher hat das Bild des Künstlers, wie Berendt es in der Pres-Biografie gezeichnet hat, heute nicht mehr die Gültigkeit wie vor vierzig Jahren. Dem alkoholkranken Künstler von heute würde man nahe legen, sein Geld in eine gute Suchtklinik zu tragen und sich am Riemen zu reißen. Vielleicht mit einem augenzwinkernden Verweis, dass es da draußen genügend Andere gibt, die durchaus dasselbe Talent haben, aber nur noch nicht entdeckt worden sind (DSDS). Doch welcher Talentscout hat heute schon die Zeit, die Heermassen an youtube-Filmchen auf einen Funken Genialität abzuklopfen? Da soll der Künstler doch selbst sehen, wie er sich vermarktet und er hat das Internet und das thumb-up seiner Fans und die Kommentarfunktion -- wenigstens als Ansporn mit der Kunst weiter zu machen.
Und dann, wenn er es doch geschafft hat? -- Wäre es nicht immens blöd, sich frustriert im Hotelzimmer mit der Flache Whisky in der Hand eins hinter die Binde zu kippen?
Wenn du nun schreibst, da sitzt der einsame Künstler im Hotelzimmer nach seinem Auftritt und sinniert über das schwarze Gefühlsloch, klingt das auf mich antiquiert und kitschig, einer Ordnung zugehörig, die es für mein Verständnis heute nicht mehr gibt.
Nun muss man sich aber einmal die Mühe machen und die heute gültigen Paradigmen herausfinden und auf das gegenwärtige Alltagserscheinungsbild abklopfen, denn irgendwo will der Künstler sich doch heute auch noch in seiner Gesellschaft verankert wissen. Zumindest dann, wenn er vor seine Bühne eine Kasse aufstellt.
Versuchen wir es mit Sartres Existenzialismus. Sartre spricht von einem
Kontingenzschock als tiefe gesellschaftliche Erfahrung des modernen Menschen. Der Kontingenzschock ist das schlagartig auftretende Bewusstsein der totalen Auswechselbarkeit: für dich ist nichts vorgesehen, du hast keine Bestimmung, und wirst eines Tages tot sein und alles geht seinen gewohnten Gang weiter.
In der Kunst, so Sartre, liegt die Möglichkeit, diesen Schock produktiv zu überwinden. Wie gesagt: produktiv. ich sehe allerdings keinen großen Unterschied, ob man ein Kunstwerk durch der Hände Arbeit erschafft (bildende Kunst) oder sich für einen Abend selbst als Kunstwerk auf die Bühne stellt. Es heißt ja, diesen Schock zu überwinden,
produktiv zu überwinden oder im Umkehrschluss: wenn du nicht produktiv genug bist, bist du selbst Schuld, wenn der Schock nicht überwunden wird.
Ha ha, ja, das ist interessant .... also gut, lassen wir das mit der Produktivität, wenn sie doch nur ein Verdrängungsmechanismus ist. Wir können uns gleich ohne die Kunst in ein einsames Hotel auf die Bettkante setzen und die Flasche heben und uns in Gedanken zuprosten: "wofür mache ich das alles, wofür rackere ich mich ab, wo am Ende doch so oder so der Tod steht und nicht einmal von meinem Ruhm etwas mitzunehmen ist?"
Für diesen Gedanken braucht es aber keine Bettkante, kein Hotelzimmer, ja nicht einmal einen Künstler. Jeder, der halbwegs ehrlich mit sich umgeht, wird sich diese Frage einmal gestellt haben (vielleicht sogar ohne Alkohol) und nun spielt es eigentlich keine Rolle mehr, ob man sich abends an die Kasse stellt und sich ein Ticket kauft, damit die trüben Gedanken wenigstens für diesen Abend weggefegt werden, oder ob man selbst dort oben auf der Bühne steht und den Schock mittels Bühnenproduktivität überwindet.
Dabei wird dieser Schock nie überwunden, nicht einmal, wenn man der geliebten eine Liebeslied ins Ohr flüstert. Wie auch? -- Wenn man noch genauer hinsieht wird der Kontingenzschock sogar von Tag zu Tag größer, denn desto älter ich werde, umso wahrscheinlicher wird nun auch der Tod! Wenn es also nun jemand schafft, mir diese unüberwindbare Angst doch noch wegzutreten, und sei es für einen winzigen Augenblick -- beim Betrachten eines Bildes, dem Hören von Musik, die uns ins Jenseits rückt, die so inspiriert ist, als wäre sie bar jeder Sterblichkeit, als leuchte sie ganze Felder Unsterblichkeit aus, als könnte sie in ihrem reinen Klang über alle weltlichen Gesetze hinwegfegen -- ja, dann ist es völlig natürlich (kann man hier nicht sogar von einer gesellschaftlichen Pflicht sprechen?), den Künstler herauszustellen, ihn auf ein Podest zu heben, ihn zu begrapschen, ihn nicht mehr loszulassen und ihn mit Haut und Haaren aufzufressen!
Das muss einmal gesagt werden ... und .... und jetzt muss jetzt selbst wieder produktiv werden
Schöne philosophische Grüße,
von wallenstein