Hi,
das Thema hatten wir schon ab und an. Mir ist nicht ganz klar, wo das Problem sein soll, Individuum zu sein. Mit all den zugehörigen Konsequenzen.
Nicht diesen gequälten "ich-will-ich-sein" Blödsinn, die Suche nach einer Identität um jeden Preis, die oft genug nur darin besteht, Unterschiede herauszustellen, wo keine sind.
Sicher auch nicht das romantisch-heroisierende und bürgerlich verkrampfte "ich-gegen-die-welt". Das ist ein Missverständnis von Individualität.
Aber verzichten werden wir darauf nicht können. Es ist NICHT egal, wer die Geschichte erzählt, wenn sie nur erzählt wird. Es ist immer der singer und nie der song.
Das alles widerspricht in keiner Form dem gemeinsamen Musikmachen. Auf unterer Ebene kommen die angesprochenen Effekte sowieso nicht zum Tragen. Da ist niemand der geschützt werden muss, dessen Leib und Seele daran zerbrechen, dass er einfach nur ein Instrument spielt. Dass man zur Musik mehr als nur sich selbst benötigt, ist offensichtlich.
Auf höherer Ebene wird sich das Konzept vom Kollektiv nur in Ausnahmefällen durchsetzen, weil Musik als die direkteste Kunstform auch die direkteste Art der Identifikation verlangt. Die Produzenten stellen aus gutem Grund irgendwelche Pappnasen auf, die zu ihren Playbacks singen. Es ist so, wie es ist - und das ist kein Zufall.
Aber ebenso, wie nach Tucholsky Feuerländer keine Widerlegung der deutschen Grammatik sind, ist deswegen die Identifikation mit einem Individuum nicht a priori schlecht oder ablehnenswert. Wenn ich auf Individualität verzichten möchte, dann werde ich Fan von meinem zuständigen Finanzamt. Da kenne ich auch niemand persönlich.
Ohne Identifikation gibt es Entwicklung des heranwachsenden Kindes, des Lernenden. Nichts von alledem kann man abstrakt sehen. Und nichts davon kann das Kollektiv ersetzen. Ich kann mich in eine Gruppe auch nicht verlieben. Hassen kann ich sie vielleicht. Das sagt doch schon alles.
Tatsächlich bietet ein Kollektiv Schutz für den Einzelnen. Aber gerade das macht mich immer wieder misstrauisch. Kollektive - oder die große Masse, um es gleich zu maxinmieren - sind amorph, nicht greifbar und im Zweifelsfall als Gruppe nicht verantwortlich für die Handlungen der Einzelnen darin, während die wiederum nichts mit den Handlungen der Gruppe zu tun haben wollen, wenn's schief läuft.
Man kann Leid nicht dadurch minimieren, dass man auf Individualität verzichtet. Man schafft es in vielen Fällen erst. Linkshänder zu sein, war noch vor wenigen Jahrzehnten so individuell, dass man es einer Gesellschaft nicht zumuten wollte und die Kinder dazu gequält hat, Rechtshänder zu werden. Vereinheitlichung bringt genauso viel Leid wie ihr Gegenteil.
Ich rede ausdrücklich nicht einem Individualismus das Wort, der in einem grenzenlosen Egoismus und Solipsismus alle anderen zur dummen Statisterie degradiert, der die Gemeinschaft nur benutzt, statt ihr im selben Maße zu dienen.
Individualität ist nichts, was man will, sondern etwas, das man automatisch besitzt (Sprechen, Denken, körperliche Merkmale). Und erst im Kontakt mit anderen Wesen wird man zum Individuum.
Wo dies nicht klar ist, wo Menschen zu Gruppen zusammengefasst werden, wo Hutu und Tutsie aufeinander losgehen, weil sie Hutu und Tutsie sind, da sind tausend Tote eine amorphe und letztlich belanglose Masse. Der Verzicht auf Individualisierung ist der Tod des Mitleids, der Tod des Mitempfindens. und letztlich der Tod einer Gesellschaft überhaupt, welche jedem Einzelnen das Recht zur Existenz zubilligt und zubilligen muss.
Ging jetzt ein bisschen weiter. Aber das Thema reizt mich immer iweder zu umfangreichen Kommentaren.