Ach ja, hier wird ja schon wieder kräftig intellektualisiert. Wären wir doch bloß bei unseren bescheidenen, hirnrissigen Tabellen geblieben…
Hoffentlich wähnt sich keiner der anwesenden Herren in der Diskussion der Wahrheit näher als die anderen Teilnehmer. Jeder Buschtrommler, der ein einfaches Tac-Tac-Tac trommelt, ganz bei sich und der Sache, ist viel näher dran als wir…Aber macht ja nix, wir haben ja augenscheinlich nichts Besseres zu tun, also dann:
Gut, dass Du auf Frankie Trumbauer und Rudy Wiedoeft verweist, Max. Es fing ja nicht mit Hawkins an. Aber ob deren Einfluss so groß war, dass sie in die Top 10 gehören, ich weiß nicht. Du wirst mir das aber sicher gern erklären .
Trumbauer und Wiedoeft mit seinem C-Melody sind enorm wichtig, weil sie die ersten waren, die als Saxophonisten explizit in Erscheinung getreten sind. Damit wurde die Saxophonstimme personalisiert und mit riesenhaften Plattenverkaufszahlen in die Wohnzimmer getragen. Die Größen der 30er haben diese Leute gehört und dann angefangen zu spielen. Dadurch kommt ihnen der Verdienst zu, die Rolle des Saxophons in einer JazzBand imaginiert und realisiert zu haben. Also 100 Punkte auf meiner Liste der einflussreichsten Saxophonisten im Jazz.
Wenn dagegen z.B. ein Ben Webster nicht auf der Liste ist, gehört Lucky Thompson auch nicht drauf. Wie gesagt, es geht mir nicht um die Besten, sondern um die Einflussreichsten…
Es wohl noch stärker als heute in Richtung Reduktion von Komplexität gehen.
Nee, ich glaube, es passiert genau das Gegenteil. Es baut sich Komplexität auf. Lies mal die alten Arbeiten von Behrendt dazu. Vor 350 Jahren hättest du noch gefährlich gelebt, wenn du eine Quarte in deine Komposition eingebaut hättest. Man nannte das wegen der „Dissonanz“ „Il Diavolo in Musica“ oder so ähnlich. Noch vor 100, 120 Jahren waren z.B. Nonen unüblich wegen der innewohnenden Spannung. Es kommt dem Jazz zu, die Hörgewohnheiten im 20. Jahrhundert auch in der populären Musik verändert zu haben. Heute sind selbst im Popsektor Intervalle und Akkorde üblich, die vor Jahrzehnten nie eingesetzt worden wären. Jazz hat hier die Türen geöffnet. Und es geht weiter: Die Musik der Zukunft wird noch viel komplexer werden analog zur sich aufbauenden mechanisch-physikalischen Komplexität in der Materie.
Vor allem: Man muss nicht das geringste von Harmonielehre verstehen. Kein Instrument beherrschen. Null Ahnung von Intervallen. Nichts, gar nichts
Nichts ist schwerer als großartige „einfache“ Musik zu schreiben. Das ist die Klasse bei Leuten wie Beatles&Co. Mit viel „Ausstattung“ und Technik etwas zu sagen ist ungleich einfacher, als mit drei Akkorden etwas Großes zu vollbringen. Deswegen ist gute Popmusik so schwer zu machen! Das ist die Genialität: Aus wenig so viel zu machen.
Ich finde z.B. Rap überhaupt nicht simpel oder banal. Es kommt doch auf die emotionale Aussage an: Musik ist dann gut, wenn Sie im Hörer etwas bewegt, beim Hörer „Vibrations“ auslöst. Gute Musik ist daher nicht immer substantiell komplexe Musik. Möglicherweise könnte aber auch einfache Musik emotional komplex sein. Eine andere analoge Form von Komplexität. Aber: Das heißt aber auch nicht, das Qualitätsbegriffe, z.B. die Kompetenz zur Beurteilung eines guten Weins, die Ästhetik eines guten Architekturentwurfs damit ausgehobelt sind und als rein subjektiv deklassifiziert. Was heißt aber Qualität? Eine philosophische Frage. Wer dem nachgehen möchte, kann das z.B. unterhaltsam mit Robert Pirsigs „Zen oder die Kunst, ein Motorrad zu warten“ tun, einem Klassiker der westlichen Zen-Literatur.
Ähh, wo waren wir stehengeblieben?.....Der Idee von potentiell zunehmender Komplexität steht das zweite thermodynamische Gesetz gegenüber, die Idee von abnehmender Reibung bei zunehmendem Gleichmaß.
Musikformen wie Jazz konnten sich nur in einem komplexen, isolierten Biotop organisieren, weil dort mehrere Einflüsse zusammenkamen, die für die Entwicklung wichtig waren: kulturelle Einflüsse, politische, wirtschaftliche Rahmenbedingungen, freigesetztes kreatives Potential, Spannung und die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Auch Zeit ohne störende Einflussnahme von außen. Wir sehen in der Weltgeschichte viele ähnliche Beispiele: z.B. die Förderung von Komponisten an den spätbarocken Höfen Europas, die eine erstaunliche Produktivität freigesetzt hat. Hätten sich nur wenige Paradigmen verändert, wäre ein Überleben dieser neuen Musik in einem sonst feindlichen Umfeld gescheitert.
Zunächst scheint zeitgenössische Musik wie die Weltmusik von den vielen vorher durchlebten Entwicklungsphasen zu partizipieren und profitieren. Die zugegeben kulturpessimistische Frage sei erlaubt: Hat sich in der westlichen Postmoderne eine am menschlichen und emotionalen Maßstab orientierte Musik nicht schon überlebt? Und unterliegt Musik nicht zunehmend
anderen, marktdynamischen, technokratischen Kriterien, fällt zurück hinter andere Formen menschlichen Ausdrucks, weil kreatives Potential, unabdingbare Voraussetzung für gute Musik, nicht mehr ausreichend evoziert werden kann? In diesem Fall würden mit einer globalisierten Musikkultur die wertvollsten Perlen menschlichen Schaffens, nämlich in Kunst-(Musik)werken kondensierte schöpferische Kraft einzelner lokaler Bewegungen, schnell noch verwurschtelt, Lama-Gesänge aus Tibet hervorgezurrt, seltene amerikanische Trommelrhythmen hergeschleppt, alles noch mal in einem Finale Furioso als Sensation zur Explosion gebracht. Und dann? Globalisierter Stumpfsinn?