Noch mal zurück zum Thema "vom Blatt spielen", hatte den Beitrag schon unter falscher Rubrik:
Noten lesen können und danach spielen können, insbesondere vom Blatt, sind zwei verschiedene Dinge, denk ich, sozusagen der weite Weg vom Buchstabieren und Stottern bis hin zum Verstehen.Von einem Profimusiker im klassischen Bereich erwartet man selbstverständlich das Verstehen. Aber auch da gibt es sicher Unterschiede: Ein Musikstück beim Notenlesen als künstlerischen Ausdruck zu verstehen oder rein formal-musikalisch.
Wenn ich "frei" spiele, meinethalben auch zu einem vorgegebenen Stück, dann kann ich das nur, wenn ich es irgendwie vom Ausdruck her verstehe, allerdings sind mir da Grenzen gesetzt, die mich wieder unfrei machen: Das sind weniger die Harmonien und rhythmischen Figuren an sich, sondern meine begrenzten Fähigkeiten, sie so bewußt zu hören und einzuordnen, daß ich sie gezielt einsetzen kann, also der theoretische Überbau. Und außerdem meine ich auch bisher erfahren zu haben, daß dieses Verstehen zunächst erst einmal nichts mit formalmusikalischen Können bzw. Wissen zu tun hat, wie z.b. Kenntnisse in Harmonie usw.. Aber ich bin ganz sicher, daß dieses Problem bei einem Profi im Jazz gar nicht so existiert, da irgendwann bewußtes Verstehen und einsetzen können, mit formalmusikalischem Wissen im Einklang steht. Das eine geht nicht ohne das Andere ab einem gewissen Niveau.
Allerdings (und nichts anderes bedeutet das Vorhergesagte): Improvisieren kann man bis zu einem gewissen Grad bei nicht harmonisch / rhytmisch zu komplizierten Stücken, bei Gefallen, Erfahrung, Gewohnheit usw. (s.o.bei HWP), man muß nicht unbedingt dazu wissen, was z.B. ein verminderter Septimenakord ist oder eine Synkope... Aber man stößt schnell immer wieder an Grenzen, die selbst ein Freejazzmusiker schon lange überwunden hat. Umgekehrt wird ein Vom-Blatt-Spieler mit zusätzlichen theoretischen Kenntnissen nur dann improvisieren können, wenn er Fantasie und Mut hat, über Vorgegebenes sich hinwegzusetzen (jede Improvisation, jede musikalische Spontanerfindung ist meiner Meinung nach ein sich über das Vorgegebene Hinwegsetzen, nicht ignorieren (!), sonst würde ja nur eine in Tonfolgen aufgelöste Wiederholung der harmonischen und rhythmischen Vorgaben entstehen und keine wirklich musikalische Findung.
So ist für mich die mehr oder minder gekonnte und
komplizierte Aneinanderreihung von eingeübten Phrasen in entsprechenden Tonartwechseln noch keine Improvisation, aber ohne dem kommt wohl keiner aus sozusagen als Stilmittel. Es gibt kaum einen Musiker, der improvisiert wie wenn er ausschließlich die Melodie einfach neu erfindet und ersetzt, vielleicht Ornette Coleman, aber eben sehr frei.
Ob und inwiefern das alles abhängig vom "musikalischen" Gehör ist, weiß ich nicht. Ich denke aber, daß Gehörbildung und angeborene Fähigkeiten imense Auswirkungen auf das intuitive und auch rationale Verstehen haben, vor allem aber fördert es auch den Spaß an der Musik. Aber der notenunkundige oder auch harmonieunkundige Töne-erzeuger benötigt nicht mehr oder weniger musikalisches Gehör als der Vom-Blatt-Spieler, damit aus seinem Tun Musik herauskommt. Aber sicherlich ist das Nach-Gehör-Spielen die direktere und natürlichere Methode für Jazz und ähnlicher Musik, die weniger den kulturhistorischen Ballast mit sich herumtragen.