Hallo Hans!
Interessantes Thema, hoffentlich posten noch einige andere Teilnehmer dazu...
Also, mit typisch deutsch hat das erstmal gar nix zu tun...
Jazz wird seit Jahrzehnten akademisiert und ist gerade auf dem Wege, selber "klassische Musik" zu werden. Er verliert einfach seinen Status als lebende Musik. Was heißt das?
Als Jazz in Amerika die populäre Musik war und von einer breiten Hörerschaft getragen wurde, entwickelte Sie sich voller Begeisterung und Enthusiasmus weiter. Gewisse Dinge wie z.B. die Kirchentonleitern waren zwar schon längst bekannt, aber man hatte Sie noch nicht im Jazz umgesetzt, es gab einfach noch neue Harmonien, Formen, Changes zu erspielen...gleichzeitig gab es im Jazz auch die Musiker, die die Möglichkeit hatten, mitreißende, emotionale, phantastische Musik zu machen, das Publikum reagierte darauf...sicherlich geschah das auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Warum und wieso der Nährboden für Jazz gerade hier so groß war, würde den Rahmen eines Postings sprengen.
Irgendwann begann der Jazz jedenfalls seinen kulturellen Background als Ausdrucksmittel der unterprivilegierten schwarzen Bevölkerung Amerikas zu verlieren. Er wurde ersetzt durch andere, jetzt populärere Musikstile, seine Protagonisten und Hörer waren teilweise in der amerikanischen Gesellschaft angekommen, andere (politische) Ausdrucksweisen wurden möglich. Die industrialisierte Gesellschaft machte den Raum für Phantasien, und die sind im Jazz notwendig, kleiner. Die Entwicklung eines ganzen Musikstils, der an historische und zeitliche Rahmenbedingungen geknüpft war, war abgeschlossen.
In den 60ern und 70ern gab es eine Menge Musiker und Kritiker, die den Jazz unabhängig davon als immer lebende und sich weiterentwickelnde Musik begriffen, als progressive Musik von seinem populären und kulturellen Background lösen wollten. ´Kann man nachvollziehen oder nicht, dazu gibt es natürlich verschiedene Meinungen.
Feststeht, daß das Einmalige im Jazz zu seiner Hochzeit, die progressive, intellektuelle Entwicklung verbunden mit reinem Spaß und Spielfreude war. Und dann noch das antreibende Feedback von einem Riesenpublikum. Das sind Kennzeichen lebender Musik.
Als Johann Sebastian Bach seine Musik entwarf, ließ er ganze Kadenzen zur freien Improvisation offen. Ja, es wurde improvisiert und nicht zu knapp, alternative Instrumente ausprobiert, Konzertmeister spielten in ganz Europa und brachten neue Einflüsse, kurz: es wurde gejammt wie verrückt. :-D
Irgendwann verlangsamte sich die Entwicklung klassischer Musik, Sie wurde alt. Alles war schon einmal gespielt und das in allerhöchster Qualität, es existierte gewissermaßen ein "Tonideal", die ideale Interpretation eines Stückes, und dem wurde nachgeeifert, am besten, indem man direkt nachspielte.
Was hat das mit Jazz zu tun? Ganz einfach: Wenn ich heute wissen will, wie Charlie Parker "Koko" gespielt hat, gehe ich in den Laden, kaufe mir das Omnibook und da steht dann "alles" drin, Note für Note transkribiert (auch für Bb) :-D . Was passiert? Die Musik kristallisiert. Wer Charlie Parkers Musik spielen will, macht das am besten so wie im Buch. Freies Spielen wird ersetzt durch Vorgaben der "Altmeister", durch mehr Theorie, Fachwissen, Sie wird zu einem Studienobjekt...was sich auch darin spiegelt,daß viele Musiker im Jazz heute von den Hochschulen kommen. Man wird also in Zukunft Jazz studiert haben müssen ähnlich (oder genauso) wie klassische Musik, sonst ist man Dilletant. Der Unterschied zum Jazz alter Tage: Dilletanten waren erwünscht, denn aus Ihnen wurden oft große Musiker. Sie konnten spielen, wurden von Auftrittsmöglichjkeiten, begeisterten Hörern und vielen Kollegen getragen.
Nun denn: Wir können Musik, die von Menschen für Menschen gemacht ist, nicht vom sozialen und geistigen Umfeld trennen. Damals fand Jazz optimale Wachstumsbedingungen vor, heute nicht mehr. Das ist der Unterschied. Und das nicht nur in Deutschland, sondern die Entwicklung findet weltweit so oder so ähnlich statt.
Machen wir uns nix vor: Jazz ist tot. Wir brauchen doch in Zukunft gesellschaftlich eh keine Phantasie und Kreativität mehr. Ist doch nur was für freie selbstbewusste Individuen, viel zu kompliziert, kann man schlecht vermarkten, lass mal lieber,kauft man lieber die nächste von der Industrie auf den Markt gebrachte Instant-Musik-CD.
Ich bin doch nicht blöd. hehe.
Zu allerletzt: Es gibt eine Stelle bei Ken Burns "Jazz", die mir besonders gefällt...Ein Interviewer befragt Duke Ellington, der am Flügel sitzt, nach seiner Musik, nach den Bausteinen, den Noten...der Duke unterbricht Ihn, schüttelt mit dem Kopf, sagt " Nein, Nein, ... es sind Phantasien, nur Phantasien..." und beginnt zu spielen.
Max