Ich kenne leider zu viele, die von der Pentatonik-Dudelei nie mehr los gekommen sind.
Da hast Du natürlich recht. Das sollte nur der Anfang sein und man sollte sich dann weiterentwickeln. Aber wenn die Alternativen lauten: „Ich kann
gar nicht improvisieren, weil ich nicht weiß wie und das mit den Akkorden nicht kapiere“ und „Ich kann zwar nur mit der Pentatonik improvisieren, aber ich kann wenigstens improvisieren“, dann ist die letzte Variante entschieden die bessere.
Der Vergleich mit der Sprache ist tatsächlich sehr passend. Man wird vielleicht nie perfekt in einer Fremdsprache, aber auf so einem „Pidgin“-Niveau hängenzubleiben ist nicht schön. Dennoch muss das jedem selbst überlassen bleiben. Wenn jemand auch in seiner Muttersprache keine Prosa liest, warum sollte er sie dann in der Fremdsprache lesen? Braucht er nicht. Wenn jemand das will, Prosa lesen, sich wirklich integrieren und in die Kultur seines Gast- oder Auswanderungslandes eintauchen, dann wird er sich auch bemühen, die Sprache zu lernen. Jemand, der gar kein Interesse daran hat, seinen Sprach- oder Grammatikhorizont zu erweitern, dem wird auch nichts fehlen. Man kann die Menschen doch nicht zwingen, etwas zu lernen, was sie entweder nicht lernen wollen oder können.
Und so ist es mit dem Saxophon auch: Warum muss ich tolle Improvisationen à la Charlie Parker oder Coltrane oder sonstwem auch immer spielen können? Muss ich nicht. Braucht kein Mensch. Wenn ich das möchte, bittesehr. Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen kann. Aber wenn ich nur ein bisschen improvisieren will und stehe dann wie der Ochs vorm Berg und das erste, was ich gesagt bekomme, ist: „Lern erst mal die Harmonielehre“, was mache ich dann? Dann lerne ich es nie, bleibe ewig sogar noch unter Pidgin-Niveau.
Und es gibt immer
sehr verschiedene Herangehensweisen, wie man etwas lernt oder auch lernen kann. Die einen lernen sehr gut mit dem Kopf, theoretisch, versuchen die Dinge in erster Linie intellektuell zu erfassen. Das sind diejenigen, die sich sofort auf die Harmonielehre stürzen und das dann auch in relativ kurzer Zeit können. Und es hilft ihnen natürlich auch, dann besser improvisieren zu können.
Aber was ist mit den anderen, den meisten, würde ich einmal behaupten? Für die das Saxophon nur ein Hobby ist, eventuell sogar erst im Alter entdeckt, eventuell noch nie ein Instrument gespielt, eventuell noch nicht einmal Notenkenntnisse? Und dann sollen sie sich erst einmal mit der Harmonielehre beschäftigen? Das ist, wie wenn man jemandem, der praktisch noch kein Wort Deutsch kann, Goethe in die Hand drückt: Lies oder stirb.
So geht es doch nicht. Man muss auf eine Art anfangen, die für alle verständlich ist, mit einfachen Sachen, mit Sachen, die man konkret ausprobieren kann und hören kann, nicht erst theoretisch begreifen muss, bevor man überhaupt spielen kann.
Und ehrlich gesagt: Ich bin eigentlich der theoretisch-intellektuelle Typ UND ich hatte schon viele, viele Vorkenntnisse, habe mein Leben lang auf die eine oder andere Art Musik gemacht, aber immer Melodien. Ich habe nie Klavier gespielt und in Akkorden oder Harmonien gedacht, sondern immer in Tönen, in Melodien. Und das konnte und kann ich sehr gut. Ich kann gut singen, ich kann gut Melodieinstrumente spielen.
Und dann fange ich mit Saxophon an und gehe da ran wie ans Singen. Das Saxophon „singt“ ja auch. Es kommt der menschlichen Stimme von allen Instrumenten fast am nächsten. Ich singe keine Akkorde und ich singe keine Harmonien, ich singe Töne, Melodien. Also gehe ich hin und frage: Wie kann ich das machen? Und dann kommt als Antwort: Harmonielehre.
Wie? Um nur ein paar Töne und Melodien spielen zu können, muss man erst einmal Klavierspielen lernen? Das ist unlogisch. Das sollte auch ohne das gehen. Wenn der Lehrer gut genug ist, den Schüler da abzuholen, wo er steht, und nicht seine eigenen Vorstellungen dem Schüler aufzwingt. Selbst jemand wie ich, die ich Theorie durchaus liebe, war nicht sehr glücklich darüber. Ich wollte eigentlich nicht zurück an die Uni gehen müssen, um Saxophon zu lernen.
Das Gefühl habe ich oft bei Diskussionen im Forum. Einige Leute meinen, den
Heiligen Gral gefunden zu haben mit Akkorden und Harmonielehre und „Harmoniegerüsten“, über denen sie improvisieren. Aber sie sind nicht in der Lage, den Anfängern etwas
ohne diese „Krücke“ Harmonielehre zu erklären. Also hat auch der Lehrer Defizite, nämlich dass er anscheinend „nicht ohne Harmonielehre kann“, aber statt die eigenen Defizite zuzugeben, schiebt er sie dem Schüler in die Schuhe und überfordert ihn mit Dingen, die für den Schüler erst einmal nicht notwendig und auch nicht wichtig sind. Nur um seine eigenen Ansprüche zu befriedigen. Das ist nicht nett.
Und vor allem vertreibt es vielen wahrscheinlich sofort wieder die Lust am Spielen und die Freude am Instrument. Wenn man ihnen aber sehr schnell die Pentatonik beibringt, wird diese Lust wachsen. Vielleicht interessieren sie sich dann sogar einmal für Harmonielehre einige Zeit später. Und wenn nicht? Wen stört denn das – wie Du es nennst – „Gedudel“? Niemanden. Das ist doch nicht schlimm. Wen das stört, der braucht ja nicht hinzuhören. Bücher, die man nicht mag, liest man ja auch nicht.
Abgesehen davon, dass man mit der Pentatonik so schön improvisieren kann, wenn man Rhythmus und Sprünge und weggelassene Noten und Pausen mit einbezieht, dass das sicher kein „Gedudel“ mehr ist. Auch da gibt es ja Unterschiede. Viel mehr ist das, was Charlie Parker gespielt hat, „Gedudel“, das man kaum anhören kann. Das wird aber als große Kunst angesehen. (Was es harmonisch betrachtet ja auch ist, aber wichtig an Musik ist doch in allererster Linie, dass man sie anhören kann, nicht welche tollen Harmonien, die einem die Ohren zerschmettern, darin vorkommen
).
Und somit ziehe ich jemanden, der geschickt mit der Pentatonik improvisieren kann, dem „Gedudel“ von Charlie Parker und Co. tausendmal vor, so hochanspruchsvoll es auch sein mag. Musik ist in erster Linie Gefühl, und was ich bei diesem anspruchsvollen „Gedudel“ von Parker, Coltrane, Brecker usw. heraushöre, das sind nicht die Gefühle, die ich beim Hören von Musik empfinden möchte.
Es führt nicht nur
ein Weg nach Rom, sondern sehr viele. Harmonielehre ist einer davon, und wer das mag, dem will ich das auch gar nicht wegnehmen. Aber es gibt eben noch sehr viele andere Wege, und man muss den besten für sich selbst finden. Das heißt, es muss einem jemand diese Wege zeigen, damit man selbst entscheiden kann, was das Beste für einen ist. Mit der Basis anfangen, mit einfachen Dingen, mit konkreten Dingen, mit Erfolgserlebnissen beim Spielen. Und dann aufbauen. Für die, die das wollen.