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pue
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Jazzstile - Bebop II
Ich stelle mir vor, ich hätte 10 Jahre mit meinem Alto in solch einem Swingorchester gesessen.
Jeden Tag zur gleichen Zeit das gleiche Solo. Wir hatten unsere Soli vorher ausgearbeitet und einstudiert, so dass sie Abend für Abend risikolos abgerufen werden konnten. Zwar waren sie virtuos und das Publikum begeistert von dem, was wir da spielten, dennoch wechselte das Repertoire nicht gerade häufig. Das Publikum hatte seine Lieblingssongs und wollte diese dann auch hören. Nach dem Konzert gingen wir meist in die 210th West, 118th Street.
Thelonious sitzt über die Tastatur gebeugt und scheint die Tasten sortieren zu wollen. Hört sich an, wie die Changes von Whispering. Aber er spielt nicht die bekannten Akkorde, sondern deutet sie an, umspielt und entstellt sie, bis nur noch eine Sekunde oder eine Kette von Sexten übrig bleibt. Thelonious liebt die Sexten, ist ganz vernarrt in sie. Wenn der Bär spielt, weiß man nie genau, was wann passiert: manchmal scheint er völlig abwesend, dann wieder bricht er den Swing mit einer widerborstigen Vierteltriole auf der Dominante... Er kann die Tastatur biegen, entlockt dem Klavier unerhörte Töne; das alles in seinem eigenen Zeitkontinuum. Streng genommen hat er mit uns nichts zu tun, ist gar kein Bebopper, eher the loniouus Monk.
Kenny an den Drums treibt mit der Rechten sein Becken vor sich her. Das gesamte Tempo ist dieser eine Stick, er zieht die gesamte Band in einem Höllentempo durch den Song. Mit Links bearbeitet er sporadisch die Snare, mal synkopisch, mal gar nicht, ein System scheint nicht erkennbar und doch stehen die Schläge in einem geheimnisvollen Zusammenhang zu den Melodiefetzen, die aus dem Klavier irren. Nachdem der Bär eine fast vollständig zu nennende Phrase zu Wege bringt, attackiert die Bassdrum die plötzlich entstandene Leere.
Nun setzt Dizzy ein; Achtelketten in bislang nicht gehörten Tonarten und Skalen hängen sich in den Beat, brechen unvermutet ab um im gleichen atemberaubenden Tempo in neuer, noch gewagterer Linie den nächsten Gipfel zu erklimmen.
Die ganze brodelnde Masse würde wohl auseinander fliegen, wäre da nicht Nick am Bass. Er spielt zwar nicht, was er soll, zumindest aber erlauben einige seiner Töne, die Orientierung zu behalten, wenn er sich nach gewagtem chromatischen Ausflug wie von Zauberhand auf der Tonika wiederfindet.
Das Publikum ist schon lange ausgestiegen, bestaunt das hitzige Chaos und wundert sich, wie wir mit einem Mal das gestern von Dizzy geschriebene "Groovin' High" unisono und auf den Punkt anspielen. Nach 32 Takten ist der Ritt vorbei und wir schauen uns grinsend an.
So hätte es sein können im Minton's Playhouse oder irgend einer anderen Session Anfang der 40er. Nach 10 Jahren Swingorchester mit immer den gleichen Melodien und Harmonien waren die Changes wie eingebrannt. Sie waren so in Fleisch und Blut über gegangen, dass die Musiker spielen konnten, was sie wollten, ohne dabei Gefahr zu laufen, aus der Form zu fliegen. Im Gegenteil, sie entwickelten ein diebisches Vergnügen daran, die alten Gerüste umzudeuten, zu erweitern oder zu konterkarieren.
Es war ihnen ein Spiel und intellektueller Spass, die altbekannten Songs in neuen Stücke zu verstecken. Wer erkennt die Melodie, äh, Harmonien?
Aber es war weitaus mehr: es war der Protest gegen die Einverleibung des Jazz durch die 'weiße' Plattenindustrie und Protest gegen den immer noch nicht überwundenen Rassismus in den USA.
Rhythmus und Harmoniebehandlung im Bebop habe ich schon in vergangenen Kapiteln besprochen. Vielleicht noch ein paar Worte zu den Melodien. Im Gegensatz zu den eingängigen Themen der Swingmusik klingen diese im Bebop eher improvisiert. Wie auch die Soli bestehen sie in der Regel aus Achtelketten oder deren Fragmenten; große Bögen und die längere Linien sucht man vergebens. Besonderer Augenmerk liegt auf der chromatischen Behandlung und dem Einsatz des Tritonus als spannungsreichstem Intervall und als 3. Bluenote (flatted fifths). Neben den herkömmlichen Tonleitern und Skalen wurden vermehrt Ganzton-, Halbton-Ganzton- , Ganzton-Halbton-, chromatische sowie alterierte Skalen eingesetzt.
Letzten Endes konnte jeder beliebige Ton zu jeder beliebigen Zeit gespielt werden; das chromatische Harmoniesystem schien ausgereizt. Vielleicht war dies ein Grund für das Ende des Bebop Anfang der 50er Jahre. Aber noch zwei andere Faktoren führten meines Erachtens zur kreativen Sackgasse des einst so revolutionären Stils. Zum einen konnte es auf Dauer nicht befriedigen, noch immer über die alten Changes zu improvisieren, zum anderen forderte der Bebop eine gewisse Virtuosität, die, nicht jedem gegeben, zugleich die interpretatorische Breite der Musik arg einschränkte.
Der Bebop hat den Standart gesetzt, der noch heute im Jazz Gültigkeit hat. Einmal auf dem Bereich eben dieser Virtuosität: ein gutes Solo muss noch immer aus möglichst vielen, in atemberaubendem Tempo gespielten Tönen bestehen, was nur zu oft zu langweiligen Gedudel führt. Auf der anderen Seite in der Theorie: obwohl die letzten 60 Jahren noch einiges im Jazz passiert ist, improvisieren unsere Musikschüler noch immer über die Changes von 'Whispering' (manchen vielleicht als das bekannt). Die Grundlagen des Bebop sind zum guten Teil die Grundlagen unseres 'modernen' Musikunterrichts geworden.
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